Schüler überlassen das Schreiben ganzer Aufsätze einer künstlichen Intelligenz. Kritiker fürchten, dass der Persönlichkeitsentwicklung dadurch etwas Zentrales verlorengeht. Stimmt das?
Ein Artikel vonDie ersten Videos liefen zum Jahreswechsel auf Sihams Smartphone ein. Von da an folgte ein Tiktok-Kurzclip auf den nächsten, neben Kosmetik-, Tanz- und Tiervideos immer wieder ChatGPT, die geniale Erfindung. „Ständig erzählte irgendjemand, wie einfach man damit Hausaufgaben machen kann und wie es das ganze Schulleben auf den Kopf stellen würde“, sagt die Schülerin aus der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. „Also habe ich es selbst ausprobiert.
„Zuerst habe ich die Englischaufgaben damit gemacht“, sagt Siham. „Frage eingeben und die Antwort kopieren. Das geht total einfach, wenn man mal faul ist oder keine Zeit hat.“ Auch bei grundsätzlichem Lernstoff, für den im Unterricht der Oberstufe mal wieder nicht genug Zeit blieb, hilft ChatGPT nach. Dadurch wurde die KI zum Standard-Tool der 17-Jährigen. „Wenn mir die Antwort nicht ausreicht, schreibe ich:,Erkläre das genauer', oder ich stelle meine Frage anders.
Gerade wurde Siham von ihrem Lehrer erwischt. Was heißt schon „erwischt“: „Warum soll ich nicht ChatGPT benutzen? Ist doch auch nicht groß anders als Googeln.“ Siham sucht in ihrem Chatverlauf mit ChatGPT, um welches Thema es ging, kann den Dialog mit der Sprach-KI aber auf die Schnelle nicht finden. Es war im Politikkurs, die Hausaufgabe hatte irgendwas mit Verfassungsorganen und dem Bundesrat zu tun.
GPT steht für Generative Pretrained Transformer und ist ein neuronales Netz, dessen Verbindungen sich zwischen den Rechenknoten bei Erfolg verstärken. Dadurch lernt das Netzwerk, ähnlich wie unser Gehirn es tut.
Dass diese kostbaren Daten gerade Sekunde für Sekunde den Internetriesen durch die Lappen gehen, macht ChatGPT zu dem großen Ding, das es gerade ist. Zum ersten Mal spurtet Google nicht vorweg, sondern muss nachziehen. Hastig hat es sein eigenes künstliches Sprachmodell namens Bard veröffentlicht, das bei dessen Vorstellung gleich mal eine falsche Info verbreitete und die Aktie von Googles Mutterkonzern Alphabet absacken ließ.
Vor zwei Jahren gegründet, surft Mindverse nun auf der Erfolgswelle von ChatGPT mit. „Im Vergleich zu GPT kann Mindverse besser Deutsch und ist dank seiner Livedaten aus dem Internet moderner“, sagt Lorenz. ChatGPT greift nur auf Datensätze bis zum Jahr 2021 zurück. Seit zehn Jahren programmiert Lorenz, vor sieben Jahren hat er seine erste Firma gegründet, dann verkauft. Er hat ein bisschen Medizin studiert, ist aber lieber zu BWL gewechselt.
Das hat Thomas Süße auf das Programm aufmerksam gemacht. Er steht vor einem Smartboard in den Räumen des Campus Gütersloh, einem schlichten weißen Gebäude hinter dem Bahnhof, auch „Gleis 13“ genannt. Die Studierenden machen hier hauptsächlich etwas mit Maschinen: Mechatronik, Engineering, Logistik, digitale Technologien. Sozialwissenschaftler Süße bringt die menschliche Komponente in die Maschinenwelt, indem er zur Transformation der Arbeit forscht.
Den richtigen Umgang mit ChatGPT lernen Das Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh ist ein bisschen besonders. Protestanten gründeten es, als die ersten Maschinen begannen, die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen, und die Aufgaben des Handwerks übernahmen. Es heißt, hier würden RichterInnen, ChirurgInnen und ManagerInnen von morgen die Schulbank drücken.
Es ist Mittwoch, ein eisiger Morgen, erste Stunde, Deutsch. In der 8. Klasse sind die Laptops aufgeklappt, kein Heft, kein Stift liegt auf den Tischen. Lehrer Haverkamp steht vor dem Bildschirm an der Wand, wo früher mal eine Kreidetafel hing, und schickt ein paar Meldungen über Elon Musk auf den Monitor. „Welche Nachricht ist Fake und von ChatGPT, welche ist echt?“ Es gibt erste Vermutungen, der Schreibstil der KI ist der Klasse längst vertraut.
Dennoch arbeitet auch Lillis Mitschüler Max viel mit dem Sprachtool. „Wenn ich einen Aufsatz schreibe oder etwas programmieren will. Die KI verkürzt die Zeit für die Fleißarbeit, damit ich mehr Zeit für die Denkarbeit habe.“ Wegen der Sache mit ChatGPT waren auch schon mehrere Medienleute am Gymnasium und haben mit ihm gesprochen. Gerade erst kam ein Fernsehteam vorbei, erzählt Max. Die hätten für ihren Beitrag aber mal schön seine Antworten verdreht.
Im Gegensatz zu den USA scheinen es die Bundesländer nicht auf ein Verbot von ChatGPT abzusehen. Auf der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart hieß es gerade: Sprach-KI hat zu viel Potenzial, um sie zu verbieten. „Wir haben uns angesehen, wie Menschen Roboter wahrnehmen, welche Eigenschaften sie ihnen zuschreiben und welche Aufgaben sie die Roboter übernehmen lassen“, erklärt die Psychologin. Denn der technologische Fortschritt entwickelt sich nur in die Richtung, die wir bereit sind mitzugehen. Der optimistische Weg ist der: Die KI wird viel Arbeit vereinfachen und Jobs nur dort ersetzen, wo sie neue schafft.
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